====== Art. 29 Dublin-III-VO: Modalitäten und Fristen ====== ===== - Abs. 1 Überstellungsfrist und ihr Beginn ===== ==== - BVerwG, Urteil vom 26.05.2016, 1 C 15.15 ==== Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbricht Überstellungsfrist Leitsatz: >Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1, 2 Satz 1 AsylG ) unterbricht den Lauf der Frist für eine Überstellung nach den Regelungen der Dublin II/III-VO (juris: EGV 343/2003 bzw. EUV 603/2013). Mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts über einen solchen Antrag wird die Frist auch dann neu in Lauf gesetzt, wenn der Antrag abgelehnt wird. ==== - EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C‑245/21 und C‑248/21 ==== Keine Unterbrechung der Überstellungsfrist bei allein praktischer Unmöglichkeit der Überstellung Rn. 65: >Zum anderen war der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne. Rn. 73: >Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, > >sind dahin auszulegen, dass > >die in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Überstellungsfrist nicht unterbrochen wird, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats auf Art. 27 Abs. 4 dieser Verordnung gestützt eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung mit der Begründung erlassen, dass diese Vollziehung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei. ==== - VG Düsseldorf, Beschluss vom 30.11.2023, 12 L 2970/23.A ==== Rn. 21 ff.: >Eine Entscheidung, die – wie hier – eine aufschiebende Wirkung aber allein deshalb anordnet, weil eine Überstellung des Ausländers aus praktischen Gründen unmöglich ist, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs indes nicht geeignet, die Überstellungsfrist zu unterbrechen. Er hat ausgeführt, der Unionsgesetzgeber sei nicht der Ansicht, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne. Er habe nämlich keine allgemeine Bestimmung in diese Verordnung aufgenommen, die eine solche Unterbrechung oder eine solche Aussetzung vorsehe. > >Vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 - C-245/21 -, juris, Rn. 65 f.; Urteil vom 12. Januar 2023 - C-323/21 bis C-325/21 -, juris, Rn. 69 f.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Juni 2023 – 29 K 3075/23.A –, juris, Rn. 26 ff. > >Nach diesen Maßgaben dürfte die sechsmonatige Überstellungsfrist ausgehend von der fiktiven Zustimmung Italiens zum Übernahmeersuchen am 18. Mai 2023 gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung nach derzeitigem Kenntnisstand bereits am 18. November 2023 abgelaufen und die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags auf die Antragsgegnerin übergegangen sein (vgl. auch Bl. 114 der Akte). ===== - Abs. 2 Verlängerung der Überstellungsfrist ===== ==== - VG Münster, Beschluss vom 28.10.2024, 10 L 927/24.A ==== Kein Flüchtigsein ohne Bescheid >Unabhängig von der Frage des tatsächlichen Flüchtig-Seins des Antragstellers am Tag der Verlängerungsentscheidung des 27. Februar 2024 ist maßgeblich, dass die Verlängerungsentscheidung zeitlich vor der Zustellung der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung am 5. März 2024 ergangen ist. Eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist jedoch erst möglich, sobald das Bundesamt gegenüber der betroffenen Person eine wirksame Abschiebungsanordnung erlassen hat. > >Vgl. zum Ganzen VG Münster, Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2022 – 8 K 812/22.A –, n. v., und Urteil vom 13. Mai 2024 – 10 K 2579/23.A –, n. v. {{:241101_vg_ms_123_kein_fluechtigsein_ohne_bescheid.pdf|Beschluss}} ==== - VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18.03.2024, 2a K 3003/23.A ==== Flüchtigsein muss zum Zeitpunkt der Meldung an anderen Mitgliedstaat noch andauern >Ein Flüchtigsein kann nach der Rechtsprechung angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO („flüchtig ist“) folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen. Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist bedarf es keiner Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat, sondern genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat den zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. > >Vgl. m. w. N. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 26.20 -, juris Rn. 22 ff. > >Dass für eine Überstellung grundsätzlich ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, um die Überstellung zu bewerkstelligen, rechtfertigt keine andere Beurteilung, weil es die Behörde selbst in der Hand hat, bei zwischenzeitlichen Überstellungshindernissen infolge einer Flucht im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO zeitnah durch eine Verlängerung der Überstellungsfrist zu reagieren; etwaige Kommunikationsmängel im Verhältnis zu den mit dem Vollzug der Überstellung betrauten Behörden müsste sich die Behörde zurechnen lassen. > >Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 -, juris Rn. 27. {{:240318_vg_ge_fluechtig.pdf|Urteil}} ~~socialite~~