Inhaltsverzeichnis

§ 29 AsylG: Unzulässige Anträge

1. Abs. 1: Unzulässigkeitstatbestände

1.1 Nr. 2: Anerkannten-/Drittstaatenfälle

1.1.1 VGH Baden Württemberg, Beschluss vom 13.10.2022, A 4 S 2182/22

Zum Begriff der „Vulnerabilität“

Leitsatz:

Der unionsrechtliche Begriff der „Vulnerabilität“ und die diesbezügliche richterliche Bewertung sind im Dublin- oder Drittstaatenfall nicht durch § 60a Abs. 2c AufenthG definiert oder beschränkt.

Rn. 8 .:

Ob eine Person der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, ist im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem auch in Dublin- oder Drittstaatenfällen unter Berücksichtigung insbesondere von Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU zu bestimmen. Danach berücksichtigen die Mitgliedstaaten „die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z.B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien“. Vergleichbares ist in Art. 20 Abs. 3 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU geregelt; nach Absatz 4 der Norm muss diesbezüglich ausdrücklich eine „Einzelprüfung“ durchgeführt werden. Auch hieraus ergibt sich, dass für die Frage der Vulnerabilität immer auf die individuellen Umstände der Person abzustellen ist.

Der Begriff der „speziellen Schutzbedürftigkeit“ bzw. „Vulnerabilität“ ist mithin im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem selbst verankert und damit Unionsrecht. Auch unbestimmte Rechtsbegriffe des Unionsrechts genießen Anwendungsvorrang vor grundsätzlich dem gesamten nationalen Recht und müssen im Sinne des „effet utile“ europaeinheitlich praktische Wirksamkeit entfalten (vgl. schon EuGH, Urteil vom 09.03.1978, Rs. C-106/77 ; Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Aufl. 2022, S. 1095 f., m.w.N.). Hieraus ergibt sich, dass der unionsrechtliche Begriff der „Vulnerabilität“ nicht durch eine nationale Norm in einem Mitgliedstaat in bestimmter Hinsicht definiert werden kann. Dementsprechend kann weder § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG regeln, dass unionsrechtlich zu vermuten ist, dass oder wann ein Antragsteller im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich als „nicht-vulnerabel“ anzusehen ist, noch kann § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG bestimmen, wie die unionsrechtlich vorgeschriebene Einzelfallbewertung der „Vulnerabilität“ nach Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU bzw. Art. 20 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU europaweit oder auch nur in Deutschland einschränkend zu erfolgen hat. Die anwendungsvorrangigen Normen des Unionsrechts müssen vielmehr nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wegen des Erfordernisses der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, soweit sie, wie hier, für einen bestimmten Begriff nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten. Diese Auslegung muss unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der betreffenden Vorschrift, sondern auch ihres Kontexts und des mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziels gefunden werden (so EuGH, Urteil vom 19.03.2019, Rs. C-163/17 Rn. 55, m.w.N.).

1.1.2 VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 9.2.2024, 18a K 261/21.A

Formelle Rechtswidrigkeit eines Bescheides wegen fehlender persönlicher Anhörung

Der Bescheid vom 12. Januar 2021 ist formell rechtswidrig. Die Klägerin zu 1. ist vor seinem Erlass nicht persönlich angehört worden. Vielmehr wurden ihr lediglich die schriftlichen Fragebögen „Dublin Erst- und Zweitbefragung (D1277 + D1416)“ in arabischer Sprache zur schriftlichen Stellungnahme überreicht.

Dieser Verfahrensmangel (dazu 1.) wurde bis zuletzt nicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) geheilt (dazu 2). Er ist auch nicht gemäß § 46 VwVfG unbeachtlich (dazu 3).

1.
Das Bundesamt wäre verpflichtet gewesen, die Klägerin zu 1. vor Erlass der streitgegenständlichen Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG persönlich anzuhören.

Gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtline 2013/32/EU (im Folgenden: Asylverfahrensrichtlinie) ist dem Antragsteller, bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz durch einen nach nationalem Recht für die Durchführung einer solchen Anhörung zuständigen Bediensteten zu geben. Nach Art. 34 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie ist dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, sich zu der Anwendung der Gründe nach Art. 33 der Asylverfahrensrichtlinie in seinem besonderen Fall zu äußern, bevor die Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet. Hierzu führen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung eine persönliche Anhörung durch. In Umsetzung dieser Regelung sieht § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG vor, dass das Bundesamt den Ausländer zu den Gründen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis Nr. 4 AsylG persönlich anhört, bevor es über die Zulässigkeit eines Asylantrags entscheidet,

siehe BVerwG, Urteile vom 21. April 2020 – 1 C 4.19 –, Rn. 32 und vom 30. März 2021 – 1 C 41/20 –, Rn. 18, jeweils juris.

Entgegen § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG wurde die Klägerin hier zu dem Ergehen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Verwaltungsverfahren nicht persönlich angehört.

Eine persönliche Anhörung war auch nicht vor dem Hintergrund der damailigen Auswirkungen der Corona-Pandemie allgemein entbehrlich. Für eine generelle Substitution der persönlichen Anhörung durch eine schriftliche Befragung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls gab bzw. gibt es keine gesetzliche Grundlage. Dass die Beklagte unter Berufung auf Art. 14 Abs. 2 Buchstabe b der Asylverfahrensrichtlinie bzw. § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG aufgrund bestimmter Umstände des Falls von der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1. im Ermessenswege verzichtet hätte, etwa weil hinreichende Anhaltspunkte dafür vorgelegen haben, dass sie an COVID-19 erkrankt oder sie aus gesundheitlichen Gründen besonders gefährdet gewesen wäre[…]

Gerichtsbescheid