guinea
Inhaltsverzeichnis
Guinea
1. Geschlechtsspezifische Verfolgung
1.1 Zwangsverheiratung
1.1.1 VG Münster, Urteil vom 10.05.2024, 4 K 1792/21.A
Bei einer Zwangsverheiratung handelt es sich um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil sie eine Bedrohung von erheblicher Intensität der persönlichen Freiheit, des Selbstbestimmungsrechts auf Wahl des eigenen Ehepartners und der sexuellen Integrität bedeutet.
1.2 „Sekundärbeschneidung“
1.2.1 VG Münster, Urteil vom 10.05.2024, 4 K 1792/21.A
Die Zwangsbeschneidung ist eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil es sich um einen an das Geschlecht anknüpfenden gravierenden Eingriff in die körperliche Integrität der Klägerin mit ganz erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen handelt.
Vgl. nur VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 – 13 K 4740/13.A -, juris, Rdn. 45 f., m. w. N.
Nach Aktenlage besteht kein greifbarer Anhaltspunkt dafür, dass vom guineischen Staat die Gefahr einer Zwangsbeschneidung ausgeht. Die Beschneidung durch nichtstaatliche Akteure oder auf deren Veranlassung – hier ein zukünftiger Ehemann der Klägerin - schließt aber die Annahme einer (Vor-)Verfolgung nicht aus. Denn weder der guineische Staat, noch Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen in Guinea waren - und sind - willens oder in der Lage, die Klägerin im Sinne des § 3 c Nr. 3 AsylG vor der Genitalverstümmelung zu schützen.
Vgl. auch VG Münster, Urteil vom 26. November 2021 – 4 K 287/19.A -; VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 2. Februar 2016 – 3 K 1138/14.A -, juris, jeweils m. w. N.; ebenso österreichisches BVwG, Urteil vom 7. April 2015 – W 121 1416841-2 -, abrufbar im Internet.
Die Beschneidung von Mädchen und Frauen ist in Guinea seit 1996 formell unter Strafe gestellt. Das strafrechtliche Verbot wird jedoch lediglich in wenigen Einzelfällen umgesetzt mit der Folge, dass Guinea nach Somalia noch immer die höchste Beschneidungsrate der Welt hat und nach Schätzungen des VN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Guinea 94,5 % der Frauen zwischen 15 bis 49 Jahren beschnitten sind, wobei der Prozentsatz bei den älteren Frauen in dieser Gruppe mit 97,7 % höher liegt als bei den jüngeren mit 91,7 %. 39 % der Mädchen im Alter zwischen 0 bis 14 Jahren sind bereits beschnitten.
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea, Stand Januar 2021, S. 11; vgl. auch VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris, m. w. N.
Der Gefahr einer Zwangsbeschneidung im Falle einer freiwilligen Eheschließung in Guinea steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin nach ihrem glaubhaften Vortrag bereits zwangsbeschnitten ist. Aus bei der Kammer anhängig gewesenen Verfahren, etwa das Verfahren 4 K 534/18.A, ist dem Einzelrichter bekannt, dass häufiger Männer in Guinea auch dann eine Zwangsbeschneidung vor der Heirat verlangen, wenn die Frau bereits beschnitten worden ist. Diese Einschätzung deckt sich mit den Angaben von Zerm, „Weibliche Genitalverstümmelung. Was müssen Kinder- und Jugendärzte über die genitale Beschneidung von Mädchen wissen? - Zahlen, Daten, Fakten“, in: prädiat. prax 82 (2014), S. 59 (62), abrufbar im Internet. Danach wird in Guinea ebenso wie in Gambia „nicht selten eine Zweitbeschneidung vor einer Hochzeit vorgenommen, wenn im Kindesalter 'zu wenig' beschnitten worden ist“.
Vgl. auch VG Münster, Urteile vom 6. Dezember 2022 – 4 K 580/20.A -, 14. August 2020 – 4 K 5872/17.A -, und 24. Januar 2020 – 4 K 534/18.A –
Dr. Zerm hat diese Einschätzung in seinem im anhängig gewesenen Verfahren 4 K 3287/19.A vorgelegten fachärztlichen Befundgutachten vom 22. März 2019 und in seinem im Verfahren 4 K 1639/22.A vorgelegten fachärztlichen Befundgutachten vom 6. September 2022 bestätigt. Danach ist die weibliche Genitalverstümmelung besonders in Guinea kein „einmaliger Initiationsritus beim Übergang vom Kind zur Frau“. Vielmehr ist eine Zweitbeschneidung insbesondere vor oder während einer Ehe sehr verbreitet und zwar abhängig von der Willkür des Ehemannes oder anderer Personen. Der Einzelrichter hat keinen greifbaren Anlass, die Richtigkeit der Ausführungen von Dr. Zerm in Zweifel zu ziehen. Auch die Beklagte, der die Ausführungen von Dr. Zerm aus den bei der Kammer anhängig gewesenen Klageverfahren bekannt sind, hat weder in diesen Verfahren noch im vorliegenden Klageverfahren substantiierte Einwände gegen die ihr bekannten Feststellungen und Schlussfolgerungen von Dr. Zerm vorgetragen.
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