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Somalia
VG Düsseldorf, Urteil vom 16.11.2023, 29 K 1/21.A
Der von dem Kläger glaubhaft geschilderte Sachverhalt begründet eine Vorverfolgung des
Klägers. Die Tötung des Vaters des Klägers, die Verletzung der Mutter und die Bedrohung des Bruders des Klägers, nachdem der Kläger gegen seinen Lehrer wegen des Versuchs der Rekrutierung von Schülern für die Al-Shabaab bei der Polizei ausgesagt hatte, recht- fertigen eine begründete Furcht des Klägers vor einer Verfolgungshandlung in Form der Anwendung physischer Gewalt nach § 3a Abs. 1, 2 Nr. 1 AsylG. Diese Verfolgung knüpft – wie von § 3a Abs. 3 AsylG gefordert – an ein Verfolgungsmerkmal an, nämlich die (ver- meintliche) politische Überzeugung des Klägers in Form der Ablehnung der Ideologie der Al-Shabaab nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Zwar ergibt sich aus dem Vortrag des Klägers keine Verfolgung durch den Staat, von Parteien oder Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 und Nr. 2 AsylG. Jedoch ist die von dem Kläger geschilderte Bedrohung durch nicht- staatliche Akteure nach § 3c Nr. 3, § 3d AsylG flüchtlingsrechtlich relevant, weil aufgrund des glaubhaften Vortrags des Klägers im hiesigen Einzelfall davon auszugehen ist, dass der Staat, Parteien oder Organisationen im Sinne der § 3c Nr. 1 und Nr. 2, § 3d Abs. 1 AsylG nicht in der Lage sind, Schutz im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylG zu gewährleisten. Somalia hat zwar den Zustand eines „failed state“ überwunden, bleibt aber ein sehr fragiler Staat ohne flächendeckende, effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Struktu- ren sind schwach und weiterhin im Aufbau befindlich. Dabei sind Rückschläge zu ver- zeichnen. Noch immer herrscht in Süd- und Zentralsomalia in vielen Gebieten Bürgerkrieg. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) sowie weiteren internationalen Unterstützern gegen Al- Shabaab. Trotz dieser seit Jahren andauernden internationalen Unterstützung ist es der somalischen Regierung jedoch bislang nicht gelungen, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen, sodass die somalischen Sicherheitskräfte immer noch zu schwach und schlecht organisiert sind, um selbstständig – ohne internationale Unterstützung – die Sicherheit im Land garantieren zu können. Auch können die somalische Regierung und ATMIS keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land gewährleis- ten.
Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik
Somalia, Stand: April 2023, S. 4, 5, 19; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Somalia, Stand: 17. März 2023, S. 6, 29, 93 ff.
Auf dieser Grundlage ist es auch beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger auch bei ei-
ner Rückkehr nach Somalia erneut Verfolgungshandlungen durch Al-Shabaab ausgesetzt sein wird. Das Gericht geht zudem aufgrund des glaubhaften Vortrags des Klägers im hie- sigen Einzelfall davon aus, dass der Kläger nicht darauf verwiesen werden kann in einem anderen Landesteil Somalias vor der ihm drohenden Verfolgung internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG zu suchen. Selbst in der von der Regierung und ATMIS kontrollierten Stadt Mogadischu, in der sich die Sicherheitslage stark verbessert hat und kein generelles Risi- ko der Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab mehr besteht, ist die Sicherheitslage weiter- hin dadurch gekennzeichnet, dass Al-Shabaab jederzeit Angriffe auf die dort in großer An- zahl vorhandenen Behörden und ihre Unterstützer verüben kann und verübt. Die gegebe- ne Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte reicht weiterhin nicht aus, um eine flä- chendeckende Präsenz sicherzustellen. Gleichzeitig ist Al-Shabbab im gesamten Stadtge- biet präsent. Denn Al-Shabaab verfügt über eine unbekannte Zahl an verdeckten Mitglie- dern, Sympathisanten und Informanten, die es ihr ermöglichen, selbst die am besten ab- gesicherten Ziele in der Stadt zu penetrieren. Mogadischu bleibt hierdurch ein Hotspot ter- roristischer Gewalt der Al-Shabaab, die hierbei üblicherweise Sicherheitskräfte und Vertre- ter des Staates bzw. von diesen frequentierte Örtlichkeiten angreift. Gerade jene, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von Al-Shabaab als Unterstützer der Regie- rung wahrgenommen werden, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt.
Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik
Somalia, Stand: April 2023, S. 19; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länder- information der Staatendokumentation – Somalia, Stand: 17. März 2023, S. 48 ff; European Union Agency For Asylum, Country Guidance: Somalia, Stand: August 2023, S. 87; UK Home Office, Count- ry Policy and Information Note – Somalia: security and humanitarian situation in Mogadishu, Stand: Mai 2022, S. 40 ff.